In den letzten Tagen dieses Jahres widme ich mich einem Thema, das mich schon lange umtreibt. Und das nicht nur mich betrifft. Es geht um die Wahrung eigener Grenzen. Unsere Kraft ist eine Ressource, die wir nicht beliebig ausschöpfen können. So sehr wir es uns auch wünschen mögen: Allen Ansprüchen gerecht zu werden ist ein geradezu unmögliches Unterfangen. Ja, nicht einmal unsere eigenen Ansprüche können wir erfüllen (wobei diese ja oftmals auch die härtesten sind). Vor allem uns Frauen scheint es zunehmend schwerer zu fallen, unsere Grenzen zu akzeptieren.
Warum das meiner Ansicht nach so ist und weshalb ich mich von dem Gedanken verabschiedete, dass dieses Problem nur Baby-Mütter oder beruflich sehr eingespannte Frauen betrifft, erfahrt ihr in meinen drei Briefen an Mütter in unterschiedlichen Phasen / Lebenslagen.
Hier nun mein zweiter Brief an Janine, die nach über einem Jahr Elternzeit vor wenigen Monaten ins Berufsleben zurückgekehrt ist. Zu meinem ersten Brief an eine Mutter ins Wochenbett geht es übrigens hier.
Das Baby ist längst ein Kleinkind. Und Mamas Erschöpfung nicht kleiner …
Liebe Janine,
hast du ein paar Minuten für mich? Ich weiß, ich weiß. Du bist auf dem Sprung. Seit etwas mehr als sechs Stunden hast du darauf hingearbeitet das Büro um halb drei verlassen zu können. Hast das Augenrollen deiner kinderlosen Kollegin unkommentiert gelassen. Dabei müsste sie sich doch langsam gemerkt haben, dass du um fünf nicht mehr im Büro bist? Und obwohl du dich darüber wunderst, was so schwer daran ist Besprechungen und Meetings für den Vormittag einzuplanen, plagt dich das schlechte Gewissen. Das ohnehin deine ständige Begleitung ist.
Sagt nicht jeder, dass das Mamaleben mit zunehmendem Alter des Nachwuchses einfacher wird? Die anstrengende Zeit, das sind die ersten Monate mit Baby? Die Zeitspanne, in der an Zeit für einen selbst oder Zweisamkeit kaum zu denken ist, die ist doch spätestens mit dem ersten Geburtstag des Kindes überstanden? Ja, daran hast du fest geglaubt. In diesen wahnsinnig kräftezehrenden Momenten im ersten Babyjahr dich sogar geradezu daran geklammert. Wie man das eben so macht in aufregenden, herausfordernden Zeiten. Man klammert sich an einen Strohhalm. Sagt sich, dass das alles nur eine Phase ist. Die bald überstanden ist.
Nun willst du mir sicher „Halt mal!“ entgegnen, nicht wahr? Denn es ist ja nicht so, dass du dein erstes Jahr als Mama nicht auch genossen hättest. Wie viel Freude und Liebe mit deinem kleinen Schatz bei euch zu Hause einzog, kannst du kaum in Worte fassen. Dabei sein zu dürfen, wie in den zurückliegenden Monaten aus einem winzigen Wesen, dass gerade noch in deinem Bauch strampelte, ein zunehmend eigenständiger kleiner Mensch mit ganz eigenen Wesenszügen wurde, ist die (bisher) lehrreichste und schönste Erfahrung deines Lebens. Doch durchwachte Nächte, stundenlanges Stillen und Tragen sowie gemeinsam mit Baby durchgemachte Magen-Darm-Infekte sind noch nicht lang genug her, um vergessen zu sein.
Bin ich eine schlechte Mutter, weil ich mich auf den ersten Kita-Tag meines Kindes freue? Solche und ähnliche Fragen schwirrten dir in diesen auslaugenden, nervtötenden Stunden durch den Kopf. Gleichzeitig bereiteten dir viele Faktoren dieser immer näher rückenden Zukunft Sorgen. Nur, wie das wohl immer so ist mit der Grübelei, haben diese nur sehr wenig mit den Dingen zu tun, die dich nun, seit kurzem in dieser Zukunft angekommen, belasten.
Über deine Sorge, dass dein kleiner Schatz in der Kita keinen Bock aufs Mittagsschläfchen haben könnte, kannst du heute herzlich lachen. Über zehn Kind-krank-Tage im Jahr allerdings nicht. Und auch nicht über die Aussage des Vaters eures Schatzes und Partners, dass „du ja nur in Teilzeit arbeitest“ und deshalb „natürlich“ die Krankenpflege zu Hause übernimmst.
Du hast das Gefühl jeden Tag alles zu geben. Und doch reicht es nicht. Alles läuft irgendwie. Aber eben nur so halb. Wo du auch bist, in Gedanken bist du schon bei den nächsten Punkten deiner To-Do-Liste. Dich einer Sache bewusst und aufmerksam widmen? Nein, das klappt derzeit einfach nicht. Damit du dein Pensum schaffst, müsste der Tag 32 Stunden haben.
Am Frühstückstisch denkst du an den bevorstehenden Arbeitstag. Im Büro kreisen die Gedanken dann immer wieder um deinen kleinen Schatz. Und am Nachmittag ist dein Kind zwar bei dir. Aber du nicht wirklich bei ihm. Denn das Abendessen muss vorbereitet werden. Und im Haushalt einiges erledigt. Außerdem musst du dich noch um ein paar Überweisungen kümmern, ein Geburtstagsgeschenk für den Schwiegervater besorgen (dein Partner ist in solchen Dingen einfach nicht so gut …) und die Liste für den morgen anstehenden Einkauf schreiben.
Du möchtest gern alles erledigt haben, bevor du deinen kleinen Wirbelwind ins Bett bringst. Denn zu oft, zumindest deiner eigenen Einschätzung nach, schläfst du beim Kuscheln einfach mit ein. An manchen Abenden ärgert es dich, dass die Einschlafbegleitung noch immer Abend für Abend deine Aufgabe ist. Und das obwohl der Wirbelwind das Ritual des Einschlafstillens nicht mehr braucht. Dein Partner murmelt bei Diskussionen darüber gern das Wort „Feierabend“ vor sich hin.
Beim Abendessen merkst du, wie erschöpft du vom Tag bist. Ein paar Minuten Ablenkung und Zerstreuung am Smartphone wären schön … Als du diesem Drang neulich mal wieder nachgegangen bist, entbrannte ein hitziger Streit mit deinem Partner. Am Ende ging es um ziemlich viel. Weit mehr als ein Smartphone am Esstisch. Dieses ständige Aufwiegen und sich gegenseitig vorhalten, wer mehr für die Familie macht, raubt dir deine Nerven. Du spürst, dass ihr eigentlich über einiges reden müsstet. Ehrlich und offen.
Denn während Papa sich gern mal einen familienfreien Abend gönnt, wenn ihm „alles zu viel wird“, kannst du von einem Hobby oder kinderfreien Verabredungen außerhalb des Büros nur träumen. Doch dir fehlt die Kraft, dich jetzt auch noch darum zu kümmern. Und so ziehst du dich immer mehr zurück. Wenn es nicht zum Streit kommt, dann ist das doch auch schon viel wert, oder? Du weißt genau, dass das Quatsch ist. Eine bessere Lösung kannst du momentan jedoch nicht sehen.
Und neben all dem Frust, der sich in Bezug auf deine Partnerschaft in dir aufgestaut hat, ist da – mal wieder – diese Stimme in deinem Kopf. Die, die dir so viele Dinge einflüstert. Jetzt sagt sie dir, dass du keine gute Partnerin bist seit der Geburt eures Kindes. Dich plagt das schlechte Gewissen. Exklusive Zeit zu Zweit? Fehlanzeige! Der arme Mann …
Die Stimme ist nie zufrieden mit dir. Egal, welche Entscheidung du triffst. Ganz gleich, um welchen Bereich deines Lebens es geht. Du gibst dein Kind in die Kita? Oh weh! Wenn das mal keine Bindungsstörung und ein lebenslanges Trauma nach sich zieht. Du gehst „nur“ in Teilzeit wieder arbeiten? Das ist ja wohl Hochverrat an all den Bemühungen starker Frauen in Richtung Gleichberechtigung. Außerdem hast du bei der Entscheidung wohl kaum an die eigene Altersvorsorge gedacht. Und dann dieses Chaos zu Hause! Eine gute Hausfrau gibst du echt nicht ab. Und das deine Chefin dir keine spannenden Projekte mehr zuzutauen scheint, kannst du ihr eigentlich kaum verübeln. Schließlich bist du als Mutter nun nicht gerade die Flexibilität in Person. Wenn die ungnädige Stimme dich dann noch an die Pfunde erinnert, die doch längst beim Sport wegbekommen wolltest …
Ja, das schlechte Gewissen ist zu deiner ständigen Begleitung geworden. Seit du dich eben nicht mehr 24 Stunden am Tag um deinen kleinen Schatz kümmerst, siehst du dich mit unerwarteten Heausforderungen konfrontiert. Die Entlastung, die ein paar Stunden ohne Kind am Tag mit sich bringen, hattest du dir größer vorgestellt. Die Familienfreundlichkeit deiner Firma größer (Wie kamen die eigentlich an diese Zertifizierung, mit der sie massiv werben?) Die Aufteilung der anfallenden Aufgaben rund um Kind, Haushalt und Co. zwischen deinem Partner und dir gerechter. Die Vereinbarkeit all deiner Rollen leichter. Stets lebst du im Gefühl des Mangels. Des Mangels an Kraft. Und Zeit.
Der Faktor Zeit. Wohl die größte Umstellung für dich nach der Elternzeit. Früher konntest du beispielsweise nach harten Nächten den Schlaf tagsüber mit deinem kleinen Schatz nachholen. Oder wenigstens nach Bedarf den Tag umplanen. „Wir machen heute mal gar nichts.“ Vor ein paar Monaten ging das noch. Leider warst du dir damals gar nicht darüber bewusst, dass das ein ziemlicher Luxus ist. Oh nein. Jetzt kommt wieder diese ungnädige Stimme. Ziemlich unfreundlich sagt sie: „Siehst du! Da hattest du eine ganz tolle Zeit und hast es nicht mal erkannt. Sogar dazu bist du zu doof.“
Manchmal fragst du dich, wie die anderen Mütter ihr Leben gebacken kriegen. Fühlen die sich auch wie du? Zumindest sieht man es ihnen nicht an. Und hört es auch nicht raus. Deren Leben wirken so glücklich. Ihre Social-Media-Accounts sind voll mit Liebesbekundungen an ihre Männer und Kinder. Ihre Wohnungen scheinen dem Katalog eines hochpreisigen Möbelherstellers entsprungen zu sein. Und sie selbst scheinen trotz mehrerer Kinder genug Zeit für Power-Yoga und Gesichtsmaske zu finden. Rundum glücklich, das scheinen sie zu sein. So wie sich eine Mutter doch auch fühlen sollte.
Wobei du ja auch nicht unglücklich bist. Schließlich ist dein Leben voll von Dingen, für die du unendlich dankbar bist. Doch kann dir nicht irgendwer bitte mal verraten, wie du diese strenge, stets antreibende Stimme und dein schlechtes Gewissen los wirst? Denn mit Schatten als Dauerbegleitung ist der ohnehin nicht einfache Weg durchs Mamaleben so unnötig schwer …
Liebe Janine, ich weiß. Du bist gerade irre beschäftigt. Aber vielleicht möchstest du mal wieder mit mir telefonieren? Einfach mal darüber sprechen, was dich umtreibt? Und keine Sorge: Ich bin nicht böse, wenn du mich abwürgst. Ich kenne das schließlich auch.
Wenn wir uns nicht in nächster Zeit hören, dann wünsche ich dir vor allem eines: Momente ohne Schatten. Und den Mut, für diese zu kämpfen.
Alles Liebe,
deine Jana